Nach dem Viertelfinalhinspiel zwischen Olympique Lyon und Beşiktaş sprach LIGABlatt mit einem heftig in Bedrängnis geratenen Anhänger der "Schwarzen Adler", der vor Monaten auch das sicherheitskritische Champions-League-Spiel in Neapel aufsuchte. Den früheren Unparteiischen Knut Kircher fragten wir, weshalb das Hochrisikospiel trotz des Platzstürmens der OL-Fans angepfiffen wurde.
Im Nachgang der unterhaltsamen Partie sprach LIGABlatt mit dem früheren Offiziellen Knut Kircher, der erklärte, weshalb das Hochrisikospiel entgegen der Vorfälle angepfiffen wurde: "Die UEFA möchte aufgrund ihres engen Spielplans natürlich in erster Linie die Spiele durchgezogen haben. Es ist bei solchen Spielen ein Krisenstab vorhanden, wobei auch die Polizei, der Stadionmanager, die Feuerwehr und die Vereinsverantwortlichen dazu gehören. Wenn alle zu dem Ergebnis kommen, dass sich die Lage nach einer angemessenen Zeit wieder beruhigt, dann findet das Spiel statt, wenn nicht, dann findet es nicht statt."
Hallo Mehmet (anonymisiert), du warst im Auftaktspiel des Viertelfinals in Lyon. Wie war die Atmosphäre vor dem Spiel? Fans berichteten uns von unverhältnismäßigen Übergriffen der Polizisten.
Nachdem ich die katastrophalen Verhältnisse in Lyon miterleben durfte, muss ich mich bei den Sicherheitskräften in Neapel entschuldigen und mich für ihren Einsatz bedanken. In Lyon herrschte von Anfang an Chaos. Es waren so gut wie keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Die Anhänger von Beşiktaş und Lyon haben zum Beispiel dieselben Parkplätze benutzt und wurden zu denselben Eingängen gelotst – ganz egal in welchem Block sie ihre Plätze hatten. Anfangs schien auch alles friedlich zu verlaufen, bis dann das Stadion erreicht wurde. Wir fragten einen Polizisten nach dem richtigen Eingang, woraufhin er uns in eine Richtung schickte, wo die Stimmung zwischen einer Gruppe von Beşiktaş-Fans und der Polizei extrem gereizt war. Ohne, dass ich irgendetwas getan habe, fand ich mich plötzlich im Gedrängel wieder und wurde durch die Polizisten aus der "neutralen Zone" in die Menge der Randalierer gedrängt. Dabei habe ich natürlich den einen oder anderen Rempler abbekommen. Naja, es hätte auch ein Schlagstock sein können. Es reichte scheinbar vollkommen aus, dass ich ein Beşiktaş-Trikot trug, um gleich als Hooligan abgestempelt zu werden. Glücklicherweise konnte ich gerade rechtzeitig zu unserer Gruppe zurück, bevor die Polizisten Tränengas in die Masse warfen.
Gab es Rangeleien zwischen den Fans untereinander? Auf den Bildern sah man einen vermummten Lyon-Anhänger, der mit einer Krücke auf ein kleines Mädchen losging.
Rangeleien gab es bereits vor den Eingängen, nachdem die erste Eintrittskontrolle passiert war. Es war den Lyon-Fans anzumerken, dass ihnen die Überzahl der Rot-Weißen Flaggen mit Halbmond und Stern gar nicht passte. Der vermummte Lyon-Hooligan ist uns bereits draußen aufgefallen, wie er humpelnd durch die Gegend lief. Ein sehr guter Schauspieler, wie sich hinterher herausstellte. Und so ein Irrer darf seine Krücken mit ins Stadion nehmen, um diese dann als Waffe gegen ein kleines Mädchen zu richten? Ein besseres Beispiel für Doppelmoral habe ich in meinem fast 30-jährigen Leben nicht erlebt.
Mit 45 Minuten Verspätung wurde die Partie letztlich angepfiffen. Wie wirkte das Platzstürmen der Lyon-Fans auf die türkischen Anhänger?
Einfach nur lächerlich. Erst mit allem, was sie reinschmuggeln durften auf die türkischen Fans losgehen, und dann den Platz stürmen. Die Schuldigen sind natürlich schnell gefunden: Die türkischen Fans, die lediglich sich, ihre Frauen und Kinder schützen wollten und sich gegen Angriffe der Lyon-Fans gewehrt haben. Dass dies nicht der Grund für das Platzstürmen war, sieht man ja auch in den zahlreichen Videos, die in den sozialen Medien kursieren. Die Platzstürmer haben auf dem Spielfeld munter weiter randaliert, den Rasen und ein Tor zerstört und fleißig die türkischen Anhänger weiter provoziert. Vielen Dank an dieser Stelle an die zahlreichen Fans von Fenerbahçe, Galatasaray und Trabzonspor, die auch im Stadion gewesen sind und Beşiktaş lautstark unterstützt haben. Ich denke, dass an diesem Abend ein wunderbares Zeichen für den Zusammenhalt der Türken gesetzt wurde.
Wie gingen die Sicherheitsbehörden nach dem Abpfiff mit den türkischen Fans um?
Zunächst wurden die Lyon-Anhänger aus dem Stadion geführt. Erstaunlicherweise konnte man beim Ausgang genau das umsetzen, was scheinbar beim Einlass nicht möglich war: saubere Trennung der beiden Fanlager! Nachdem die Lyon-Fans dann aus dem Stadion waren und sich auch nicht mehr in unmittelbarer Stadionnähe aufhielten, waren wir an der Reihe. Das Räumen des Stadions verlief sehr friedlich. Von Sicherheitsbehörden war jedoch keine Spur. Bei einem Fußmarsch von etwa 20 Minuten vom Stadion zum Auto sind wir maximal zehn Polizisten begegnet. By the way: Im Stadion waren an dem Abend fast 55.000 Zuschauer und die Begegnung wurde als "Hochrisikospiel" eingestuft. Dafür waren, wie auch eingangs erwähnt, die Sicherheitsvorkehrungen mangelhaft.
Würden die Zuschauer derartige Bilder wie in Lyon auch in Istanbul zu Gesicht bekommen?
So ein Skandal ist meiner Meinung nach in Istanbul nicht vorstellbar, denn das türkische Ticketing-System (Passolig; Anm. d. Red.) verhindert grundsätzlich eine Vermischung der Fans in den Rängen. In der Türkei läuft der Einlass in die Stadien wesentlich strukturierter ab und jeder wird dahin geführt, wo er auch wirklich hin muss. Die türkischen Sicherheitskräfte sind respektvoll im Umgang mit den Fans – insbesondere, wenn diese aus dem Ausland kommen. Gastfreundschaft wird dort groß geschrieben. Oder ist Euch ein Vorfall in jüngster Zeit bekannt?