Mit Nationaltrainer Vincenzo Montella hat die Türkei bei der diesjährigen EM für einige durchaus überraschend das Viertelfinale erreicht. Der Kurzpassspiel Montellas ohne "echte Neun" kam allerdings nicht bei jedem Beobachter gut an. Ich möchte hier ein Plädoyer dafür halten, warum Vincenzo Montella angesichts des türkischen "Spielermaterials" für die anstehende WM 2026 der richtige Trainer ist und warum die Türkei in den nächsten Jahren eine der spannendsten Nationalmannschaften überhaupt haben könnte. Eine Taktikanalyse von LIGABlatt-Redakteur Ove Frank. 

Nach einem engen 1:2 gegen die Niederlande ist bei dieser EM im Viertelfinale Schluss. Spielerisch allerdings haben die Türken durchaus zu überzeugen gewusst und vor allem das technisch anspruchsvolle Kurzpassspiel, das Nationaltrainer Vincenzo Montella spielen ließ, das von einigen Experten liebevoll "Türki Taca" genannt wird, ließ sich richtig gut anschauen. Dennoch muss sich der italienische Coach durchaus auch Kritik gefallen lassen, warum er mit Barış Alper Yılmaz meist auf eine "falsche Neun" anstelle eines echten Strafraumstürmers setzte, was für mangelnde Abschlussgefahr sorgte.

Ein zukunftsorientiertes, auf Talenten aufbauendes System 

Blickt man allerdings auf die aktuellen türkischen Nationalspieler sowie die "jungen Wilden", die bald noch nachrücken werden, scheint der grundsätzliche Ansatz Montellas durchaus der richtige zu sein, wobei ich ihm zu einigen kleinen Adjustierungen raten würde. Drum lasst uns doch einmal ein Gedankenexperiment wagen und schauen, wie die Türkei bei der anstehenden WM in zwei Jahren auflaufen und dabei die neuen spielerischen Impulse Montellas im Kern beibehalten könnte.

Für dieses Gedankenexperiment überlege ich mir ein spielerisches Grundkonzept, bei dem vor allem die eigenen Talente fördern und sich von möglichen "Altlasten" befreien will. Hierfür würden dann Spieler wie Semih Kılıçsoy, Can Uzun Ahmetcan Kaplan, die bislang keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben, zu Säulen im türkischen Nationalteam aufgebaut.

Mögliches Türkei-Spielsystem bei der WM 2026 

Als Grundsystem schlage ich ein variables 4-2-2-2 vor. Im Tor würde der dann 30-Jährige Uğurcan Çakır stehen, der von hinten die Abwehr mit ordnet, während die Vierer-Abwehrreihe aus Ferdi Kadıoğlu, Ahmetcan Kaplan, Meri Demiral und Mert Müldür bestehen würde. Auf der Doppelsechs spielen Hakan Çalhanoğlu und İsmail Yüksek, während die Halbräume mit Orkun Kökçü und Arda Güler besetzt werden. Den Doppelsturm bilden dann Kenan Yıldız und Semih Kılıçsoy.

Duos sollen einander ergänzen 

Der Grundgedanke ist, dass im Feld vor allem Duos agieren, von denen je ein Spieler eine eher offensive und einer eine eher defensive Grundausrichtung hat. Während die Innenverteidigung grundsätzlich gleichbleibend stabil bleibt, würde Ferdi Kadıoğlu über links mehr nach vorne schieben, während sich Mert Müldür rechts mehr in die Defensive fallen lassen würde. Auf der Doppelsechs gelte das gleiche, wobei Hakan Çalhanoğlu durch seine Pässe für Progressivität sorgt, während İsmail Yüksek gegebenenfalls zwischen die Innenverteidiger absinkt.

In den Halbräumen würde Arda Güler deutlich mehr nach vorne agieren und invers seinen linken Fuß ins Spiel bringen, während sich Orkun Kökçü neben Çalhanoğlu fallen lassen könnte. Offensiv bliebe Semih Kılıçsoy als Torjäger im Strafraum, während Kenan Yıldız als freies Radikal seinen Nebenmann durch Offensivläufe und Wucht aus der Tiefe unterstützen würde.

Situationsbedingt aus dem Spiel heraus zwischen Vierer- und Fünferkette variieren 

Grundsätzlich würde man dann mit einem 5-4-1 spielen, wobei die Außenverteidiger situationsbedingt die Offensive oder die Defensive unterstützen würden. Ein Arda Güler könnte durch eine sukzessive zentralere Rolle seine Kreativität am Ball besser ausnutzen, vor allem, wenn er vor oder neben sich mit Kılıçsoy und Yıldız zwei Anspielpartner hätte. Ein nach vorne Schiebender Kadıoğlu könnte so ebenfalls geschickt werden, um Schwung aufzunehmen und dann mit Kılıçsoy und Yıldız im Strafraum gleich zwei Abnehmer für eine Flanke zu haben. Orkun Kökçü müsste dann als technisch versierter Wühler neben Hakan Çalhanoğlu Löcher stopfen, wobei er im Ballgewinn durch einen guten Pass schnell für einen raumgewinnenden Gegenangriff sorgen sollte.

Fokus auf ballbesitzorientiertes Kurzpassspiel 

Dieses System findet seine Stärke allerdings erst im ballbesitzorientierten Kurzpassspiel. Obwohl Ferdi Kadıoğlu und Kenan Yıldız über ein gewisses Grundtempo verfügen, ist dies nicht unbedingt die Stärke des türkischen Kaders – ein auf Konter ausgerichtetes System wäre dem nicht zuträglich und würde dem Kader seiner größten Stärken berauben. Da Vincenzo Montella aber vor allem ballbesitzorientiert denkt und seine Spieler variabel gerne die Positionen tauschen lässt, passt das so schon gut. Derart könnte man sich den Gegner gut zurecht legen, um dann überfallartig doch über links Tempo aufnehmen zu lassen und schlagartig den Druck zu erhöhen.

Partner müssen Schwächen von Schlüsselspielern auffangen 

Insgesamt wäre dies eine technisch sehr starke Aufstellung, das größte Defizit läge aber in der Physis. Deshalb braucht vor allem auch ein Semih Kılıçsoy einen Nebenmann. Als Torjäger hat der 18-Jährige seine Qualitäten bereits bewiesen, gegen wuchtige Innenverteidiger geht er aber unter. Der größere und dynamischere Kenan Yıldız, der seine Stärken aber mehr im Halbraum hat, könnte hier gut unterstützen und in der gegnerischen Abwehr für Verwirrung sorgen und Lücken reißen, damit die guten Passspieler Güler, Kökçü und Çalhanoğlu ihre Stärken auch gefährlich ausspielen können.

Schlüsselspieler können in den zwei Jahren reifen 

Mit einem solchen Kader und einer proaktiven Spielidee könnte die Türkei eine der spannendsten Nationalmannschaften der nächsten Jahre bilden. Mit Talenten wie Semih Kılıçsoy, Ahmetcan Kaplan, Kenan Yıldız, Arda Güler oder Can Uzun hat man Spieler, die in den nächsten beiden Jahren noch erst so richtig explodieren könnten. Mit Ferdi Kadıoğlu, İsmail Yüksek und Orkun Kökçü hätte man Spieler von internationalem Format, die mit Mittezwanzig in zwei Jahren erst in ihre "Prime" kommen würden, während man im Zentrum mit Hakan Çalhanoğlu einen mit allen Wassern gewaschenen Haudegen hätte, der die Rasselbande um sich herum führen und anleiten würde. Also, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich hab echt bock auf die türkische Nationalmannschaft in den kommenden Jahren!

Foto: Dan Mullan / Getty Images