Vor den richtungsweisenden Nations-League-Spielen gegen Russland und Ungarn trifft die Türkei heute in Istanbul auf Kroatien. Der amtierende Vize-Weltmeister dürfte ein guter Gradmesser sein, um zu sehen, wo die Türkei aktuell sportlich steht.
Die jüngsten Ergebnisse der Türkei laden nicht gerade zum Träumen ein. In der Nations League liegt das Team von Şenol Güneş nach drei Unentschieden und einer Niederlage nur auf Platz 3, wohl auch weil der Trainer das ungeliebte Turnier lieber dafür nutzt, um Spieler und Formationen zu testen. Den überzeugendsten Auftritt boten die Türken gegen Deutschland. Das 3:3 war ein echter Achtungserfolg. Man konnte beinahe den Eindruck gewinnen, als wären die Spieler nochmal ein Stück motivierter gegen ein (vermeintliches) Schwergewicht des Weltfussballs. Aus taktischer Sicht kann man festhalten, dass die Türkei tendenziell dann stärker ist, wenn der Gegner das Spiel machen muss und starkes Pressing, eine sattelfeste Abwehr sowie schnelle Konter gefragt sind. So ist es auch zu erklären, dass die weitestgehend gleiche Mannschaft während der EM-Qualifikation in zwei Spielen gegen Frankreich hochverdient vier Punkte holt und sich dazwischen gegen Andorra und Albanien zu Last-Minute-Siegen schleppt.
Sanfter Übergang
Auch daher ist das heutige Testspiel interessant, trifft man doch auf einen Gegner, der durchaus prestigeträchtig ist, gleichzeitig aber auch (aktuell) nicht zu den ganz Großen gehört. Kroatien sucht sich nach einer überragenden WM selbst. Wichtige Säulen der Mannschaft von 2018, wie Mittelfeldmotor Ivan Rakitić, haben ihren Rücktritt erklärt. Torwart Danijel Subašić und Stammstürmer Mario Mandžukić sind aktuell sogar vereinslos und werden nicht mehr berücksichtigt. Andere Spieler, wie Domagoj Vida von Beşiktaş, befinden sich im Formtief oder im Spätherbst ihrer Karriere, wie Kapitän Luka Modrić. Gleichzeitig rücken aktuell spannende Spieler nach, die zuletzt entweder im Schatten der bisherigen Starspieler standen oder altersbedingt erst jetzt zum Zug kommen. Mit Linksverteidiger Domagoj Bradarić (Lille), Marcelo Brozović (Inter), Mateo Kovačić (Chelsea), Mario Pašalić (Atalanta), Nikola Vlašić (ZSKA) und den (ehemaligen) Bundesligaspielern Ante Rebić (Milan), Josip Brekalo (Wolfsburg), Ivan Perišić (Inter) und Andrej Kramarić (Hoffenheim) ist Kroatien auch für die nähere Zukunft gut aufgestellt – sofern es Trainer Zlatko Dalić gelingt, sie zu einer starken Einheit zu formen. An den Ergebnissen des Länderspieljahres ist der aktuelle Stand der Mannschaft wohl ganz gut abzulesen: schwächer als Frankreich und Portugal (null Punkte und 4:10 Tore in drei Spielen), aber immer noch etwas stärker als Schweden und die Schweiz (zwei knappe Siege).
Der Türkei kann das nur recht sein. In einem Spiel, in dem es nur ums Prestige geht, kann Şenol Güneş wieder Spieler testen und sie gegen einen starken Gegner ins Feld schicken. Ein Sieg würde für Selbstvertrauen sorgen, eine Niederlage vielleicht zumindest wertvolle Erkenntnisse für die Zukunft bringen.
Foto: Denis Lovrovic/AFP via Getty Images