EM-Versager Türkei: Ein Fall für den Therapeut – Kommentar

Punkt- und planlos ist die türkische Nationalmannschaft bei der EM gescheitert. Anstatt sich nun auf Trainer Şenol Güneş einzuschießen und dessen sofortigen Rücktritt zu fordern, sollte die Türkei eher über alternative Lösungsansätze nachdenken. Zum Beispiel, künftig mit einem renommierten Sportpsychologen zusammenzuarbeiten. Ein Kommentar von LIGABlatt-Redakteur Mario Herb.

Selbst einfachste Kurzpässe über eine Distanz von zwei, drei Metern landeten von Hakan Çalhanoğlu, Ozan Tufan oder Irfan Can Kahveci Mitte der ersten Halbzeit im Fuß des Gegners. Da waren sie wieder, die so oft schon auftretenden Konzentrationsschwächen und Mentalitätsprobleme der türkischen Mannschaft, die auf dem Spielberichtsbogen von den Namen so klangvoll wie herausragend besetzt scheint, an ihrem möglichen Potenzial aber laufend scheitert. Das Vorrunden-Aus bei der EM 2020 erschüttert die so fanatische Fußballnation Türkei bis ins Mark, gerade weil man sich im Vorfeld des paneuropäischen Turniers (zurecht) durchaus etwas ausrechnen durfte.

Die Qualifikation zur EM schloss die Türkei mit Bravour und einer beachtenswerten Marke von lediglich drei Gegentoren ab. In der darauffolgenden Nations League offenbarte die von Şenol Güneş trainierte Milli Takım bereits deutliche Schwächen, die wichtige Punkte kosteten und schlussendlich gar den Abstieg bedeuteten. Bei dieser EM nun überwogen sämtliche Schwächen den eigenen Stärken, was in Summe zu einem katastrophalen Turnier-Abschneiden führte – und noch schlimmer – den eingeschlagenen Weg der Entwicklung einer jungen Nationalmannschaft ernsthaft gefährdet und öffentlich zweifeln lässt.

Einsicht als der erste Weg zur Besserung

Ja, die EM ist als Kollektivversagen der Türkei zu bezeichnen und ja, der Entwicklungsprozess scheint vorerst durch eine dicke Delle zum Erliegen gekommen zu sein. Aber: Als jüngstes Team aller 24 EM-Teilnehmer haben die Halbmond-Sterne ihren Weg noch vor sich, es gilt jetzt nur die richtige Ausfahrt zu nehmen. Und da müssen sich Çalhanoğlu und Konsorten ihre größte Schwäche eingestehen, die man von den als sonst so willensstarken, leidenschaftlichen und emotional verrückten Türken vielleicht gar nicht erwarten mag: die Mentalität.

Die türkische Nationalmannschaft braucht professionelle Hilfe – und zwar nicht von einem weiteren Taktik-Guru oder Athletiktrainer, sondern eines renommierten Sport-Psychologen, eines Fachmanns, wie es ihn in eigentlich jedem Klub und Verband im europäischen Fußball gibt, nur nicht in der Türkei. Fußball findet im zweiten Abschnitt des 21. Jahrhunderts nun mal vor allem im Kopf statt und mit dem war die Türkei in den Stadien von Rom und Baku definitiv nicht anwesend. Nur wenn das oft angesprochene, aber nie zur Verbesserung umgesetzte Mentalitätsproblem beiseite geschafft wird, steht die türkische Nationalmannschaft vor einer "glänzenden Zukunft", wie es Trainer Şenol Güneş unmittelbar nach dem EM-Aus verschrien hat.

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